Babylon und der Rest der Welt
Jens Korndörfer eröffnet die Hofer Heidenreich-Tage. Dabei verwandelt der weit gereiste Organist die St. Michaeliskirche fast in ein Theater.
Vielleicht gehören die "Wasserflüsse Babylons" noch nicht zu den Weltgegenden, an denen sich Jens Korndörfer umtat. Ansonsten aber hat der Organist schon viele geringere und bedeutendere Plätze des Planeten musikalisch bereist. 1978 geboren, wuchs er in Lauf an der Pegnitz auf, erhielt seinen ersten Unterricht beim heutigen Wunsiedler Dekanatskantor Reinhold Schelter und studierte in Bayreuth, bevor es ihn hinaus in die Welt zog. Im kanadischen Montréal lebt er gegenwärtig; doch ebenso war er eine Zeit lang in Japan daheim, und auch in Paris oder London oder Boston trat er auf. Nun hat den Globetrotter sein Weg nach Hof geführt, wo die St. Michaeliskirche bekanntlich eine große, kostbare Heidenreich-Orgel beherbergt; ihr widmet Stadt- und Dekanatskantor Georg Stanek auch heuer drei "Heidenreich-Tage". Sie am Sonntag zu eröffnen, hatte er Jens Korndörfer ausersehen - eine hervorragende Wahl; ein außergewöhnlicher Auftakt.
Mit Franz Liszt, genauer: mit der Liszt-Bearbeitung von Musik aus Johann Sebastian Bachs Kantate "Ich hatte viel Bekümmernis", beginnt die scheinbar bunte Reihe der Vorträge, dem freudlosen Werktitel widersprechend prunkvoll und festlich. Und auf Liszt steuert alles zu: Eine halbe Stunde lang zieht der Interpret buchstäblich alle Register des Instruments, reist durch eine Welt der Stil- und Spielarten und klanglichen Optionen, um, erschöpfend vorbereitet, in die gleichfalls 30-minütige Fantasie und Fuge über den Choral "Ad nos, ad salutarem undam" zu münden - eine Sturmflut der Klänge.
Zunächst aber macht er, noch zwei Mal, bei Bach halt: "An den Wasserflüssen Babylons" webt er empfindsame Bläsertöne über und unter den sonoren Cantus firmus; voll von leidenschaftlichem Tiefernst, dann in licht fließendem Gleich- und Ebenmaß intoniert er die g-Moll-Fantasie mit Fuge (BWV 542). Zwischen beide Stücke schiebt Korndörfer eine von Robert Schumanns "Studien für den Pedalflügel" ein, als wär's ein Scherzo, komödiantisch, sprunghaft, sprudelnd; später hängt er Sergej Rachmaninows allzu populäres cis-Moll-Klavierprélude an, das seinen Substanzmangel wohltuend hinter der Vielfarbigkeit der Orgelversion verbirgt.
All das aber, so beeindruckend es gerät, ist nicht viel mehr als Vorspiel, gemessen an den äußeren und inneren Dimensionen der Liszt-Fantasie, der sich der Künstler mit Mut und mitreißenden Temperamentswechseln unterzieht. Seine beeindruckende Könnerschaft als Tastentechniker verknüpft er mit tiefer Kenntnis der sich ablösenden und überlagernden Ausdrucksschichten. Aus dunklem Urgrund lässt er die Musik mächtig werden, hellt sie auf und verinnerlicht sie wieder. Das Selbstgespräch kontrastiert er durch das Gepränge eines Festaufzugs, die mahnende Predigt mit der Süßlichkeit verzückten Psalmodierens oder, zumal in der scharf rhythmisierten Fuge, mit militärischer Zackigkeit.
So wie er Rachmaninows Prélude aus dem Salon ins Kirchenschiff umsiedelte, scheint er mit Liszts orgelsymphonischer Dichtung aus dem Gotteshaus ins Theater zu drängen. Und wirklich stammt der zugrunde liegende Choral aus Giacomo Meyerbeers Wiedertäufer-Drama "Le Prophète". So wird aus Jens Korndörfer am Spieltisch der Heidenreich-Orgel der Dirigent einer großen Oper.